Helena - alles andere als Schwarz-Weiß
Helena, eine junge Frau, die zu früh in eine Vernunftehe mit dem älteren Menelaos gezwungen wurde, hat nur ein Ziel: Sie will endlich sie selbst sein, ihre Gefühle und Sehnsüchte ausleben können. Die Zuschauer aller Altersgruppen fühlten hier mit. Die unangenehmen Seiten des Ehegatten wurden von Linda Götz hervorragend herausgespielt, ohne dass es überzeichnet wirkte. So mussten die zwei Wegbegleiter Odysseus und Agamemnon, fürstlich in Szene gesetzt von Irma Ederer und Luisa Fehrenbach, Menelaos immer wieder im Zaum halten und Ihn an seine Staatsaufgaben erinnern. Die Leiden der gefühlvollen Helena, die zwischen Aufbegehren, Resignation und Zynismus schwankt und unter ihrer Rolle als Ehefrau eines emotional verkümmerten Trunkenbolds leidet, wurden von Marialouisa Crincoli so sensibel dargeboten, dass man ihr emotionales Gefängnis miterlebte. Man spürte, wie sie alle Sehnsüchte, endlich gesehen, geliebt und sich frei ausleben zu dürfen, auf den schönen, hoch emotionalen und unbedarften Paris überträgt. Casey Beck verkörperte gekonnt den perfekten, liebevollen Gegenpart zu Menelaos. Allen Warnungen der Vertrauten zum Trotz kommt es zur Flucht der Liebenden. Die umsichtige und angepasste Mira auf spartanischer Seite, gespielt von Katrin Neugebauer, und der beherrscht-strategische Hector auf trojanischer Seite, gespielt von Nicolas Bell, bildeten die perfekten Antagonisten des Paares.
In Troja angekommen, scheinen die Charaktere gewachsen zu sein. Aus der hochemotionalen Helena wurde eine junge Frau, die sich des gesellschaftlichen Einflusses bewusst ist. Diese schwer zu spielende Veränderung wurde durch Körpersprache und Stimme von Marialouisa Crincoli so gut herausgearbeitet, dass man in den Zuschauerreihen das Gefühl hatte, dass sie wirklich durch eine abenteuerliche Seereise gereift ist. Auch Paris hat sich verändert. Obwohl er sich weigert, sich von der Gesellschaft instrumentalisieren zu lassen, entlarvt er, dass die hehren Ziele bei allen Kriegen nur vorgeschoben sind. Auch er ist erwachsen geworden. Diese Veränderungen auf die Bühne zu bringen und für alle erlebbar zu machen, zeichnet die Inszenierung der Theater-AG des Gymnasiums Weingarten aus. Die Reise von Sparta nach Troja ist aber nicht nur eine Reise über das Meer, sondern auch eine Reise in eine andere Welt. Wo in Sparta strenge Regeln herrschten, die man an strengen Frisuren, der kontrollierten Körpersprache und der strengen Choreographie mehr spürte als sah, herrschen in Troja freiere und vor allem emotionalere Regeln. Hier stehen Gefühle im Vordergrund, gute und schlechte. Die Sehnsucht nach ihrem Garten spielte Katrin Neugebauer sehr pointiert. Aber auch die Ausgrenzung von Helena brachten Medina Qullumi, Rebecca Martini und Maya Rehm gelungen zum Ausdruck. Cassandra, die unverstandene Seherin, versetzt die Zuschauer durch ihr Auftreten in eine Mischung aus Respekt und Furcht. Die Bühnenpräsenz von Deborah Youssef führt dazu, dass man das Gefühl hat, dass sie die wahre Kassandra ist. Die ganzen Ängste und die Verzweiflung der Figur werden durch ihr schauspielerisches Können greifbar und spürbar.
Insgesamt eine Inszenierung, die durch eine nahezu leere Bühne den Fokus auf das Wesentliche setzt – auf die unglaublich starke schauspielerische Leistung. Hier wurde nicht zuletzt durch die Tänze, die die Schrecken des Krieges ästhetisieren, ohne dessen Leid zu bagatellisieren, ein atmosphärisch dichtes Theatererlebnis geschaffen, das einen tief berührt. Ein Theatererlebnis, das erreicht, was nur Theater erreichen kann: Man fühlt mit. Man fühlt, wie das Recht auf Selbstbestimmung zu Recht gefordert wird. Man fühlt aber genauso mit, wie wichtig es ist, sich seiner Verantwortung zu stellen und gesellschaftlich und vernünftig zu agieren. Die Schauspieler und Schauspielerinnen tragen Schwarz-Weiß, die Spartaner schwarze Hosen und weiße Shirts und die Trojaner umgekehrt. Nur Helena fällt mit ihrem lachsfarbenen Gewand aus der Kleiderordnung heraus – genauso wie sie eben auch aus der Gesellschaftsordnung herausfällt. Sie passt sich keiner Konvention an, sie lebt als eigenständige und verantwortungsbewusste junge Frau. Sie hält uns allen den Spiegel vor, zusammen mit den anderen jungen Schauspielerinnen und Schauspielern, die durch ihr ausgezeichnetes Spiel und die sinnstiftende Choreographie eine Botschaft vermitteln: Hört auf mit dem Schwarz-Weiß-Denken.
Nehmen wir uns das zu Herzen, was die Theater-AG des Gymnasiums Weingarten so gut erlebbar gemacht hat: Nicht die Extreme, sondern das vernünftige Mittelmaß ist der Weg. Immanuel Kant wäre stolz auf diese Leistung!